Meine Partnerin und ich habe kürzlich spasseshalber über das Thema «offene Beziehung» gesprochen. Und dann plötzlich gemerkt, dass uns das wirklich interessiert, weil wir beide auch andere attraktiv finden. Kann so etwas überhaupt funktionieren? Worauf müsste man besonders achten?
Das Modell der offenen Beziehung wird von Paaren in meiner Praxis zunehmend diskutiert. Oft ist es nur einer der beiden Partner, der auch mit anderen sexuelle Beziehungen haben möchte, und der zweite setzt sich ihm zuliebe damit auseinander. Vielleicht findet er es dann auch spannend, vielleicht tut er es aber auch nur, weil er den anderen nicht einschränken will.
Bei Ihnen beiden klingt es allerdings so, als ob Sie ein ähnlich starkes Interesse daran haben. Das macht es sicherlich einfacher, da sich dann keiner unter Druck fühlt. Sie sprechen anscheinend offen über die Anziehung, die andere bei Ihnen auslösen. Damit gehen Sie etwas direkt an, was bei vielen Paaren ein Tabuthema ist. In den meisten Partnerschaften wird stillschweigend davon ausgegangen, dass Exklusivität selbstverständlich ist und beide treu bleiben. Dies beruht auf unserem Bedürfnis nach Sicherheit, Geborgenheit und Bindung. Aber mit der Zeit regt sich bei vielen auch das Bedürfnis nach Freiheit, Abwechslung und Abenteuer.
Für dieses Dilemma sehen einige Paare in einer offenen Beziehung die Lösung. Wenn man es ausprobieren will, ist es sicherlich günstig, klar abzusprechen, was das Paar exklusiv für sich behalten will: z. B. Gespräche über die eigene Beziehung, Orte, die dem Paar etwas bedeuten, bestimmte Zärtlichkeiten oder sexuelle Praktiken.
Es macht auch Sinn, darüber zu sprechen, ob die sexuellen Begegnungen in bestimmten Bereichen nicht gelebt werden sollen, z. B. mit gemeinsamen Freunden und Verwandten oder im Wohnort der Partner. Manche sprechen ab, wie häufig sexuelle Kontakte mit anderen sein dürfen und ob sie nur einmalig mit derselben Person stattfinden sollen. Der Sinn der Begrenzung ist, dass beim Sex Bindungshormone ausgeschüttet werden und dass die Bindung sich mit der Zeit festigt.
Bei manchen Paaren funktioniert das Modell. Für sie ist es eine Möglichkeit, das Risiko zu reduzieren, dass es aufgrund des Bedürfnisses nach Neuem zu einer geheimen Affäre kommt. Fremdgehen ist häufig: In jeder zweiten Partnerschaft kommt es im Laufe des Lebens dazu, dass einer von beiden eine Affäre hat.
Bei vielen funktioniert das Modell der offenen Beziehung aber auch nicht und sie geben es wieder auf. Der Grund ist oft, dass Unsicherheit, Eifersucht oder Ängste entstehen. Niemand weiss im Voraus, wie er reagieren wird, wenn er in diese neue Situation kommt. Man kann vorher versuchen sich nicht nur die eigenen Freiheiten vorzustellen, sondern auch, wie es wäre, wenn der Partner/die Partnerin Sex mit anderen hätte: Ist die Vorstellung erträglich, dass sie oder er sich für eine andere Person schön oder gar sexy ankleidet? Wenn er oder sie mit leuchtenden Augen zurückkommt, weil der Sex mit jemand anderem spannend war? Es braucht viel Selbstsicherheit, um sich dann durch Vergleiche oder Selbstzweifel nicht selbst zu verunsichern.
Eine besondere Herausforderung entsteht, wenn sich ein Partner verliebt. Dies ist für den anderen eine Belastung und stellt die Person vor die Entscheidung, wie sie mit diesen Gefühlen umgehen will: Sie weiter auszuleben stellt häufig eine Gefährdung der Paarbeziehung dar. Sie nicht auszuleben bedeutet sich selbst etwas zu versagen, was sich sehr lebendig anfühlt.
Eine offene Beziehung zu leben kann sehr bereichernd und spannend sein – aber Spannung ist nicht ohne Risiko zu haben (veröffentlicht in der Luzerner Zeitung).